Lacertus fibrosus
© Ralf Döringshoff
Bedeutung für Biomechanik und funktionelle Anatomie des Pferdes
Annahme:
In der Dynamik: Sturzverhinderer
In der Statik : Passiver Stehapparat
Ausgangsgedanke:
Für das Pferd ist es von überlebenswichtiger Bedeutung, dass das Vorderbein eine stabile Säule darstellt, über die der Oberkörper herübergeschoben werden kann bzw. über die der Oberkörper gehängt werden kann.

Die Frage, wie stabil diese Säule ist, entscheidet sich im Carpalgelenk. Nur wenn es vollständig gestreckt ist, stellt das Vorderbein die stabile Säule dar. Eine Beugehaltung in der Stützbeinphase birgt ein sehr hohes Sturzrisiko, für ein Fluchttier eine im Zweifelsfall tödliche Situation.
In der Anatomie finden wir allerdings nur einen Muskel, der das Carpalgelenk streckt und so auch letztlich die psychische Stabilität des Pferdes beeinflusst, den M. extensor carpi radialis.
Ist die Natur so risikofreudig oder ambitioniert, und überlässt diese große Bedeutung der Carpalgelenkstreckung nur einem Muskel?
Nein!
Die Vorführphase des Vorderbeines (Hangbeinphase) findet hauptsächlich durch die Beugung des Ellenbogengelenkes statt. Damit dabei nun allmählich auch das Carpalgelenk gestreckt wird und bei vollendeter Vorführphase vollständig gestreckt ist, hat die Natur einen wichtigen Beugemuskel des Ellenbogengelenkes (M. biceps brachii) mit dem Streckmuskel des Carpalgelenkes (M. extensor carpi radialis) verbunden. Diese Verbindung ist ein Sehnenstrang, der als Lacertus fibrosus bezeichnet wird.
So wird abgesichert, dass das Vorderbein im Carpalgelenk vollständig gestreckt ist, bevor es auf den Boden aufsetzt und die Stützbeinphase beginnt.

Die Harmonie von Beugung des Ellenbogengelenkes und Streckung des Carpalgelenkes ist abhängig davon, wie gut die Beugemuskeln des Carpalgelenkes und der Zehe sich dehnen lassen.
Beim stehenden Pferd wird über den M. serratus ventralis pars thoracis das Buggelenk durch das Gewicht des Pferdes dezent gebeugt. Damit kommt durch Dehnung des M. biceps brachii als Strecker des Buggelenkes eine Spannung auf den Lacertus fibrosus, der die Carpalgelenkstreckung unterstützt. Über diese „Kette" wird durch die muskuläre Rumpfaufhängung zwischen den Schultern die Carpalgelenkstreckung unterstützt.

Somit kommt der Stellungsbeurteilung der Schulterblätter bei geschlossen stehendem Pferd große Bedeutung zu.

Diese kann visuell und / oder palpatorisch abgeklärt werden.
Stehen sie unharmonisch zueinander, liegt also eine einseitige Rotationsfehlstellung (nach anterior) vor, dann könnte auf dieser Seite der beschriebene passive Stehmechanismus reduziert sein. Im klinischen Bild zeigt sich bei dem Scapulabefund: Läsion anterior - korrespondierend (?) eine entsprechende Veränderung des gleichseitigen M.extensor carpi radialis. Diese Veränderung betrifft zunächst den Tonus, langfristig auch die Trophik und daraus resultierend dann auch eine Zunahme der Sehnendicke.

Eine unharmonische Stellung der Schulterblätter zueinander dürfte somit in der beschriebenen Folgewirkung eine psychische Belastung für das Pferd darstellen, da die Stützfunktion des Vorderbeines eingeschränkt und damit das Sturzrisiko erhöht ist.
Neben über längeren Zeitraum ( > 6 Wochen) eingenommenen Schonhaltungen kann auch ein zu enges Kopfeisen zu den Primärfaktoren einer unharmonischen Schulterblattstellung erwähnt werden.